Wer an Leo Trotzki denkt, der hat wahrscheinlich den Organisator der russischen Oktoberrevolution, den Gründer der Roten Armee im Kopf, oder den Verfasser grundlegender Schriften zum Kampf gegen den Faschismus in Deutschland und Spanien, zur Revolution in China oder den mit einem Eispickel ermordeten „Alten“, in seinem letzten Exil in Mexiko. Nicht sonderlich bekannt ist aber Trotzkis Beziehung zu Österreich und seinen theoretischen Auseinandersetzungen mit der politischen Entwicklung in diesem Land.
Dieser Artikel soll einige Seiten dieses russischen Revolutionärs beleuchten, die bei den meisten Darstellungen seines Leben und Werks unter den Tisch fallen.
Das Exil
Trotzkis erster Aufenthalt in Österreich, genauer in Wien, datiert bereits aus dem Sommer 1902, als er auf der Flucht aus der sibirischen Verbannung auf dem Weg nach Zürich in der Hauptstadt der Habsburgermonarchie einen Zwischenstopp einlegte. Diese Fluchtroute war nichts außergewöhnliches, sondern wurde von nicht wenigen russischen Revolutionären gewählt, die vom Zarenregime politisch verfolgt wurden.
Diese politischen Flüchtlinge waren zwar bereit alles für die Revolution zu geben, diese Entschlossenheit und dieser Kampfeswille korrespondierte aber nicht im geringsten mit den materiellen Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen. Trotzki, damals nicht älter als 22 Jahre, entsprach genau diesem Bild. Viele revolutionäre Ideen und kein Geld. So reichten seine ihm zur Verfügung stehenden Mittel eben nur für eine Fahrkarte nach Wien. Hier wollte er das nötige Geld für die Weiterfahrt auftreiben.
Erster Ansprechpartner dafür war die Redaktion der Arbeiterzeitung, die sich damals noch in der Mariahilferstraße 89a befand. Dort traf er zuerst auf den Chefredakteur des Zentralorgans der österreichischen Sozialdemokratie, Friedrich Austerlitz. Trotzki wollte aber zu Victor Adler, von dem er sich Unterstützung erhoffte. Sein Pech war nur, daß er an einem Sonntag die geheiligten Hallen der Redaktion aufsuchte, und Austerlitz der Meinung war, „daß man am Sonntag Doktor Adler nicht sehen kann“. Trotzki ließ aber nicht locker, worauf sein berühmter Gegenüber noch unwirscher wurde und mit heftiger Stimme die Dinge klarlegte: „Selbst wenn Sie die Nachricht bringen würden – verstehen Sie -, Ihr Zar sei ermordet und bei Ihnen dort habe die Revolution begonnen – verstehen Sie -, auch das würde Ihnen kein Recht geben, die Sonntagsruhe des Doktors zu stören!“
Der erste Eindruck, den Trotzki von der international hoch gepriesenen österreichischen Sozialdemokratie gewonnen haben muß, dürfte somit nicht gerade der beste gewesen sein. Trotzki ist es aber dann doch gelungen, Austerlitz die Adresse des „Genossen Doktor, zu entlocken und suchte Victor Adler in seiner Wohnung auf, wo er schon etwas freundlicher aufgenommen wurde und dann auch sein Reisebudget aufbessern konnte.
Auch die Rückreise nach Rußland im März 1905, kurz nach dem Ausbruch der Revolution, führte Trotzki wieder über Wien. Und wieder half Victor Adler den russischen Revolutionären mit Pässen und Geld. In seiner Wohnung wurde sogar Trotzkis Aussehen verändert, um ihn vor zaristischen Spitzeln zu schützen.
Die blutige Niederschlagung der Revolution von 1905 führte zu einer massiven Repressionswelle gegen die russische Sozialdemokratie. Für viele AktivistInnen gab es nur noch einen Ausweg, die neuerliche Emigration. Wien wurde etwa ab 1909 ein Zentrum dieser Auslandszirkel. Ab diesem Zeitpunkt erschien hier nämlich die Zeitung „Prawda“. Trotzki kam nach einer neuerlichen Flucht aus Sibirien 1907 abermals nach Wien und ließ sich hier nieder. Trotzki wollte eigentlich nach Berlin gehen, aufgrund der Schwierigkeiten wegen seiner Aufenthaltsgenehmigung mußte er aber Deutschland verlassen. Sein Exil stand ganz im Zeichen der „Erwartung der neuen revolutionären Welle“.
Regelmäßiger Gast in Trotzkis erster Unterkunft in Hütteldorf war der Gerichtsvollzieher, weil er die Miete nicht zahlen konnte. Es blieb der Familie Bronstein nichts anderes übrig, als in die bescheidenere Sieveringerstraße 19 zu übersiedeln. In diesem Spießermilieu sah man sich aber schon bald wieder gezwungen, das Weite zu suchen. Über die Friedlgasse 40 im 19. Bezirk, wo die Familie Bronstein unter äußerst ärmlichen Umständen hauste, ging es in die Weinberggase 43 in Döbling, und von dort in die Rodlergasse 25/11. Der Menschewik Ogin schrieb nach einem Besuch in Trotzkis letzter Wiener Wohnung: „Sein Haus … war ein Armeleutehaus, armseliger als das eines gewöhnlichen Arbeiters … Seine drei Zimmer in einem … Arbeiterviertel in der Vorstadt, waren ungenügend möbliert … Der einzige Schmuck im Haus waren Berge von Büchern in jeder Ecke.“
Trotzki gehörte zu den zentralen Figuren der russischen Emigration in Wien. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist seine enge Freundschaft zu dem alten russischen Revolutionäre Klatschko, der Dreh- und Angelpunkt für die sozialdemokratische Emigration in Österreich war. Klatschkos Tochter Aline berichtete dazu: „Ich erinnere mich sehr gut, wie ich als Kind einmal ganz verwundert war, von einem älteren Wiener Genossen zu erfahren, daß er noch nie in seinem Leben eingesperrt war. In meiner Vorstellung gehörte das Eingesperrtsein geradezu zum Wesen eines anständigen Menschen. Hatte ich doch von den Helden der achtziger Jahre bis zu Trotzki immer unerschrockene Menschen, die alles um ihre Sache wagten und hergaben, als täglichen Umgang gehabt. Und das zaristische Rußland mit seiner Erwürgung jeder Freiheitsbestrebung mußte ja solche Menschen in Massen hervorbringen.“, (aus: Die Tochter des russischen Revolutionärs. Was Gemeinderätin Aline Furtmüller über ihr Leben erzählt. In: Die Unzufriedene, Jg. 1923, Nr. 14, S. 4-5) Über Klatschko und den marxistischen Historiker Rjasanov wurde meistens die ganze Arbeit bei der Organisierung der Flucht aus bzw. Rückkehr nach Rußland abgewickelt.
Um sich und seine Familie über Wasser zu halten, war Trotzki als Korrespondent für diverse liberale oder sozialdemokratische Blätter tätig. Oft konnte er aufgrund der Arbeit an der „Prawda“, keine Aufträge übernehmen. Der Gang ins Leihhaus oder in die Antiquariate, wo er seine Bücher verkaufte, war ihm und seiner Frau wohl bekannt. Ihr Leben wurde von einem bürgerlichen Journalisten als „bewundernswerte Bedürfnislosigkeit, beschrieben.
Trotzki war aber von Anfang an nicht nur als Journalist aktiv. Sein erster Kontakt zur Sozialdemokratie lief über Rudolf Hilferding, den er schon in Berlin kennengelernt hatte. Über Hilferding wurde er in die führenden Kreise der Austromarxisten eingeführt: Otto Bauer, Max Adler und Karl Renner. Trotzki sah in ihnen „sehr gebildete Menschen, die auf den verschiedensten Gebieten mehr wußten als ich., „Ich habe mit lebhaftestem, man kann schon sagen mit ehrfurchtsvollem Interesse ihrer ersten Unterhaltung im Cafe ‘Zentral, zugehört“, erinnerte er sich in seiner Autobiographie später auf dieses erste Aufeinandertreffen. Trotzki wurde auch Mitglied der SDAPÖ und verfaßte für die „Arbeiter-Zeitung, und das austromarxistische Theorieorgan „Kampf, mehrere Artikel zur Situation in Rußland und über die Sozialdemokratie auf dem Balkan.
Bald schon legte er jedoch die anfängliche Ehrfurcht ab und kritisierte mit spitzer Feder die chauvinistischen Artikel von Karl Leuthner zur Nationalitätenfrage. Leuthners Positionen waren nicht unumstritten, aber „vor dem Antlitz der frechen Einmischung von außen, rückte die Parteispitze zusammen und zeigte sich höchst entrüstet. Trotzki wurde von Otto Bauer höchstpersönlich zurechtgewiesen. Dessen Worte sprechen Bände: „‘Welche Bedeutung haben die Artikel Leuthners?, sagte er mit komischem Hochmut ‘Die Außenpolitik existiert für Österreich-Ungarn nicht. Kein einziger Arbeiter liest es.““
1911 reiste Trotzki dann als Delegierter des Auslandsbureaus der russischen Sozialdemokratie zum Parteitag nach Innsbruck, wo er auch eine Grußansprache hielt. Interessant sind die Erinnerungen von Julius Deutsch an dieses Ereignis. Er und Trotzki hatten dort, genauer in einem Gasthausgarten am Berg Isel, intensive Diskussionen über militärische Fragen. Was hier noch Theorie war, sollten beide später auch in die Praxis umsetzen. Trotzki als Führer der Roten Armee, Deutsch als Schutzbundführer.
In „Mein Leben, rechnet er mit den austromarxistischen Spitzen ab: „[Die Austromarxisten] stellten einen Menschentypus dar, der dem Typus eines Revolutionärs entgegengesetzt war. Das äußerte sich in allem: in der Art, wie sie an Fragen herangingen, in ihren politischen Bemerkungen und psychologischen Bewertungen, in ihrer Selbstzufriedenheit – nicht Selbstsicherheit, sondern Selbstzufriedenheit -; mir war mitunter sogar, als vernähme ich schon in der Vibration ihrer Stimmen das Philistertum … Im alten, kaiserlichen, hierarchischen, betriebsamen und eitlen Wien titulierten die Marxisten einander wonnevoll mit ‘Herr Doktor“. Die Arbeiter redeten die Akademiker oft mit ‘Genosse Herr Doktor, an. … Ich empfand die sozialdemokratischen Führer als fremde Menschen, während ich gleichzeitig in Versammlungen oder Maidemonstrationen mühelos eine gemeinsame Sprache mit den sozialdemokratischen Arbeitern fand.“
Diese Beschreibung gehört wohl zu den feinsten Kritiken dieser in Österreich alles dominierenden Strömung in der Arbeiterbewegung.
Trotzkis Verhältnis zur österreichischen Sozialdemokratie reduzierte sich aber nicht nur auf offizielle Parteiversammlungen oder die Arbeit für die Redaktion der Arbeiterpresse. Eine regelmäßige Auseinandersetzung mit den austromarxistischen Ideen fand nämlich in den Kaffeehäusern der Hauptstadt statt, wie mehrere Zeitzeugen zu berichten wußten. Neben der Diskussion frönte er dabei vor allem dem Schachspiel. Regelmäßiger Gast war er dabei im Cafe Central in der Herrengasse, in der Gegend rund um die Josefstädterstraße und im Cafe Eisenbahnerheim am Margaretengürtel. Eng mit seiner Liebe zur Institution des Wiener Kaffeehauses verbunden, ist eine Anekdote, die in verschiedenen Versionen kursierte. Demnach soll ein Minister angesichts der Diskussion über die Perspektiven einer anstehenden Revolution in Rußland gemeint haben: „No, sag, mir einmal, wer soll dort eigentlich Revolution machen, vielleicht der Herr Bronstein dort drüben?, Nun, ob diese Geschichte, die selbst Bruno Kreisky gerne zum besten gegeben hat, stimmt oder nicht, entscheidend ist, daß es Trotzki tatsächlich gelungen ist, binnen weniger Jahre vom isolierten Politflüchtling zum Organisator der Russischen Revolution aufzusteigen.
Trotzkis Wienaufenthalt ist aber nicht von seiner Arbeit an der russischen Arbeiterzeitung Prawda zu trennen, deren Hauptaufgabe vor allem in der „sozialistischen Agitation und Propaganda“, lag. In Wien herausgegeben, erschien sie etwa zweimal im Monat und wurde illegal nach Rußland geschmuggelt. Zentrales Problem bei diesem Projekt war natürlich die Geldnot. Dokumentiert ist jedoch, daß die österreichische Sozialdemokratie das Weiterbestehen der Prawda im Jahre 1909 finanziell unterstützt hat. Einem erhalten gebliebenen Schuldschein vom 11. März 1909 zufolge konnte sich Trotzki von der Redaktion der Arbeiter-Zeitung 200 Kronen ausleihen.
Das Projekt „Prawda“, ist eng verbunden mit der politischen Kooperation und persönlichen Freundschaft zu Adolf Joffe. Diese vertrauliche Bekanntschaft ermöglichte eine Entwicklung in Trotzkis politischem Weltbild, die nicht besonders bekannt ist.
Marxismus und Psychoanalyse
Joffe hatte ein schweres Nervenleiden und war deshalb bei Alfred Adler in ärztlicher Behandlung. Alfred Adler war vor allem auf dem Gebiet der Psychotherapie tätig und gehörte auch der sogenannten „Mittwoch-Gesellschaft, an, eine Diskussionsrunde, die sich seit 1902 in der Wohnung von Sigmund Freud traf. Adler war durch seine Frau Raissa, eine revolutionär gesinnte russische Studentin, im Kontakt mit den politischen Emigranten. Er selbst war zuvor auch im Umfeld der sozialistischen Studenten und stand somit unter dem ideologischen Einfluß des sich entwickelnden Austromarxismus. Trotzki war als Freund Joffes auch häufiger Gast bei den Adlers. Adler wiederum besuchte oft den oben bereits erwähnten Klatschko in dessen Sommerwohnung in der Hinterbrühl bei Wien. Bei diesen Treffen dürfte es zu interessanten Diskussionen gekommen sein, die beide Seiten befruchteten. Alfred Adler setzte sich verstärkt mit marxistischen Ideen auseinander und Trotzki lernte aus erster Hand die psychoanalytische Methode kennen, was er in einem Brief an I.P.Pawlow aus dem Jahr 1923 bestätigt.
In Folge dieser Auseinandersetzung referierte Adler am 10. März 1909 auch vor der Mittwoch-Gesellschaft über die „Psychologie des Marxismus“. Hier dürfte auch der Ausgangspunkt für die spätere Differenzierung in diesem Zirkel der Anhänger der Psychoanalyse liegen. Freud kannte zwar auch einige führende Köpfe der österreichischen Sozialdemokratie höchstpersönlich (seine Wohnung gehörte vormals sogar Victor Adler), doch stand er einer Ausdehnung der psychoanalytischen Ideen auf soziale und politische Phänomenen sehr skeptisch gegenüber. Gemeinsam mit Carl Furtmüller, dem Gatten von Aline Klatschko (so schließt sich der Kreis!), begründete er 1911 die Schule der Individualpsychologie, die im Roten Wien einen großen Einfluß auf die Schulreform haben sollte.
Besonders ein Artikel Trotzkis aus dem Jahr 1906 scheint Alfred Adler fasziniert zu haben. Darin behandelt Trotzki „das subjektive Moment“, mit dem er die „Bereitschaft des Proletariats zur sozialistischen Umwälzung, zu erklären versucht. Seine Polemik richtet sich dabei vor allem gegen jene, die meinen, „daß die sozialistische Psychologie eher da sein muß als der Sozialismus“. Dem hält er entgegen, daß es gelte, „sozialistische Lebensbedingungen als Voraussetzung einer sozialistischen Psychologie zu schaffen“. Unter Psychologie versteht er dabei die psychische Beschaffenheit der Menschen. Diese Debatte war gerade in der austromarxistisch dominierten Wiener Sozialdemokratie von großer Bedeutung. Trotzki lehnte das Konzept der Erziehung eines „neuen Menschen“, welche die Entstehung von sozialistischen Lebensbedingungen fördern könnte, ab. Ihm zufolge wird der „durchschnittliche Arbeiter durch die Lebenserfahrung davon überzeugt“, daß es notwendig ist, das kapitalistische System zu stürzen. Nicht aus Büchern lernt die Masse der ArbeiterInnen sondern aus ihren tagtäglichen Erfahrungen, die von ihren Organisationen verallgemeinert werden.
Dieses erste Kennenlernen der Psychoanalyse soll aber nicht nur eine kurzfristige Angelegenheit bleiben. Trotzki beschäftigt sich von nun an ziemlich intensiv mit solchen Fragen, vor allem mit den Ideen Sigmund Freuds. In einem längeren Artikel zum Thema „Kultur und Sozialismus, geht er auf die in der Sowjetunion entbrannte Debatte zur Rolle der Psychoanalyse ein: „Die marxistische Wissenschaftskritik muß nicht nur wachsam, sondern auch vorsichtig sein, sonst verkommt sie zu reiner Angeberei, zu Famusowismus. Die Psychologie bietet ein gutes Beispiel. Pawlows Reflexologie verfährt gänzlich nach den Methoden des dialektischen Materialismus. Sie reißt konsequent die Mauer zwischen Physiologie und Psychologie ein. Der einfachste Reflex ist physiologisch, aber ein System von Reflexen gibt uns ‘Bewußtsein“. Die Anhäufung von physiologischer Quantität ergibt eine neue ‘psychologische, Qualität. Pawlows Methode ist experimentell und gewissenhaft. Schritt für Schritt werden Verallgemeinerungen gewonnen: vom Hunde-Speichel bis zur Poesie – das heißt, zum psychischen Mechanismus des Dichtens, nicht zum sozialen Gehalt der Dichtung. Freilich sind die Wege, die zur Poesie führen, vorerst noch nicht gefunden worden.
Die Schule des Wiener Psychoanalytikers Freud verfährt auf andere Weise. Sie nimmt von vornherein an, daß die Triebkraft der komplexesten und sublimsten psychischen Prozesse ein physiologisches Bedürfnis ist. In diesem allgemeinen Sinn ist sie materialistisch, läßt man die Frage beiseite, ob hier nicht dem sexuellen Faktor auf Kosten anderer zu viel Gewicht eingeräumt wird, denn das ist bereits ein Streit innerhalb der Grenzen des Materialismus. Aber der Psychoanalytiker geht an die Probleme des Bewußtseins nicht experimentell heran, indem er von den niedrigsten Erscheinungen zu den höchsten fortschreitet, vom einfachen Reflex zum komplexen Reflex, sondern indem er die Zwischenstufen in einem Satz von oben nach unten zu überspringen sucht, vom religiösen Mythos, dem lyrischen Gedicht oder den Träumen direkt zur physiologischen Grundlage der Psyche.
Die Idealisten sagen uns, die Psyche sei eine selbständige Wesenheit, die ‘Seele, ein Brunnen ohne Boden. Pawlow wie Freud meinen, der Boden der Seele sei die Physiologie. Aber Pawlow steigt wie ein Taucher auf den Grund hinab und erforscht den Brunnen sorgsam von unten bis oben, Freud steht über dem Brunnen und sucht mit scharfem Blick die ständig bewegte, unruhige Wasseroberfläche zu durchdringen und die Gestalt der Dinge, die darunter liegen, zu erkennen oder zu erraten. Pawlows Methode ist das Experiment, Freuds Methode die Konjektur, manchmal die phantastische Vermutung. Der Versuch, die Psychoanalyse für ‘unvereinbar, mit dem Marxismus zu erklären und den Freudismus einfach zu ignorieren, ist allzu einfach, genauer: einfältig. Wir sind ja nicht gezwungen, den Freudismus zu akzeptieren. Es handelt sich dabei um eine Arbeitshypothese, die im Rahmen der materialistischen Psychologie Deduktionen und Konjekturen ermöglicht. Durch Experimente wird man zu gegebener Zeit diese Vermutungen auf ihre Stichhaltigkeit hin prüfen. Wir haben keinen Grund und kein Recht, das psychoanalytische Verfahren mit einem Bann zu belegen. Auch wenn es weniger sicher ist, versucht es doch, die Schlußfolgerungen vorwegzunehmen, zu denen die experimentelle Psychologie nur sehr langsam vorstößt.
Mit Hilfe dieser Beispiele wollte ich auf die Heterogenität unseres wissenschaftlichen Erbes wie auf die verwickelten Wege hinweisen, auf denen das Proletariat es in Besitz nehmen kann. Wenn es stimmt, daß beim wirtschaftlichen Aufbau Probleme nicht per Dekret gelöst werden können und wir lernen müssen, ‘Handel zu treiben“, dann kann auch in der Wissenschaft das Kommandieren nur Schaden stiften und uns Schande bereiten. Auf diesem Gebiet müssen wir ‘das Lernen lernen“.“
Auch in seinem „Tagebuch im Exil, schreibt er 1935, daß er sich mit Freud und seinen Ideen weiterhin auseinandersetzt. In diesem Zusammenhang ist seine Freundschaft zu dem Surrealisten Andre Breton erwähnenswert. Diese Beziehung hatte auch einen theoretischen Ausfluss, nämlich das „Manifest für eine unabhängige revolutionäre Kunst“, das 1938 verfasst wurde. Trotzki und Breton wollten damit eine Alternative zur Reduzierung der Kunst auf Propaganda im Dienste totalitärer Regime formulieren. Nur wenn die Künstler ihre individuellen Erfahrungen (Leid, Glück, Angst) ohne Kompromisse in Versen, Tönen, Bildern zum Ausdruck bringen können, und ohne Rücksicht auf den herrschenden, von oben dirigierten Geschmack, überlieferte Formen und Themen nehmen zu müssen, ist Kunst möglich. In dieser Debatte spielte die Auseinandersetzung um die Vereinbarkeit von Marxismus und Psychoanalyse ebenfalls eine wichtige Rolle.
Trotzkis Kenntnisse über die Psychoanalyse, die auch immer wieder in seinen Schriften Spuren hinterlassen haben, machten auch Wilhelm Reich auf ihn aufmerksam. Reich radikalisierte sich unter den Eindrücken der Ereignisse des Jahres 1927 in Wien und engagierte sich in der KPÖ. Er gründete die „Sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung, mit Sexualberatungsstellen für ArbeiterInnen. Dabei geriet er immer mehr zwischen die Stühle, auf denen er zu sitzen versuchte. Für die Psychoanalytische Vereinigung war er bald zu links und in der KP stieß seine Sexualpolitik auf wenig Gegenliebe. 1933, mittlerweile in Kopenhagen wohnhaft, war er zwar noch Mitglied der KP, nahm aber nun mit Trotzki Kontakt auf, von dem er einen Ausweg aus seiner politischen Krise erwartete. Reich kannte Trotzkis Kopenhagener Rede, die dieser im Jahr zuvor auf Einladung der sozialdemokratischen Studenten gehalten hatte. Trotzki geht dabei am Schluss auf die Rolle der Psychoanalyse in der Zeit nach der Revolution ein. Ihr mißt er die Aufgabe zu, die „geheimnisvollen Triebkräfte der Psyche zu beleuchten und sie der Vernunft und dem Willen zu unterwerfen“.
Außerdem kannte Reich Trotzkis Schrift „Fragen des Alltagslebens“: „Das Seelenleben ist sehr konservativ, und unter dem Einflusse der Anforderungen und Schläge des Lebens verändern sich in erster Linie die Gebiete des Bewußtseins, die diesen Schlägen unmittelbar ausgesetzt sind. Unsere soziale und politische Entwicklung der letzten Jahrzehnte dagegen verlief in einem noch nie dagewesenen und unerhörten plötzlichen Tempo, mit noch nie dagewesenen und unerhörten plötzlichen Wendungen und Sprüngen. Darum sind ja auch die Zerrüttung und das Chaos bei uns so tief. Aber es wäre unrichtig, zu meinen, daß diese Geschwister nur in der Produktion oder im Staatsapparat wirtschaften. Nein, man braucht gar nicht zu verhehlen, daß sie auch in den Köpfen herrschen und die unglaublichsten und durchdachtesten Überzeugungen (…) in Verbindung mit Gesinnungen, Gewohnheiten und teilweise Ansichten erzeugen, die gerade aus dem Mittelalter kommen., Das Alltagsleben spiegelt für ihn in Summe viel mehr die Vergangenheit der menschlichen Gesellschaft als ihre Gegenwart wider – ein Standpunkt, der dem von Freud nicht unähnlich ist. Den Mann, der solche Zeilen schrieb, wollte Reich unbedingt persönlich kennenlernen.
Der Nachwelt blieben 4 kurze Briefe aus der Korrespondenz zwischen den beiden erhalten und markieren somit ein wichtiges Zeugnis einer Annäherung zwischen Marxismus und Psychoanalyse vor dem Zweiten Weltkrieg. Reich gibt in seinem ersten Brief vom Oktober 1933 seiner Hoffnung Ausdruck, bei Trotzki „für die Bedeutung der Sexualpolitik für den Klassenkampf mehr Verständnis, als sonst der Fall ist, zu finden“. Dabei bittet er Trotzki auch um dessen Meinung zu seiner Schrift über die Sexualökonomie der politischen Reaktion und die Grundaufgaben der proletarischen Sexualpolitik und „im Falle grundsätzlicher Zustimmung um politische und organisatorische Hilfe sowie Aufrechterhaltung des Kontaktes in der Arbeit“.
Trotzki nimmt Reichs Anliegen offenbar recht ernst, gesteht aber, dass er auf diesem Fachgebiet „ziemlich ignorant, ist. Weiters schreibt er: „Die allgemeine Bedeutung der Sexualprobleme für die Erziehung der Arbeiterjugend verkenne ich natürlich nicht und würde gerne mich über ihre Ansichten, Erfahrungen und Pläne auf diesem Gebiet des Näheren informieren., Zwei Jahre später wiederholt Reich sein Angebot zu einem Treffen. Trotzki bekundet abermals sein Interesse, aufgrund seines schlechten Gesundheitzustandes dürfte es dazu aber nicht gekommen sein.
Der Erste Weltkrieg
Nun aber zurück ins Jahr 1914. Sein Exil in Wien ging mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu Ende. Die Kriegserklärung Österreichs an Rußlands sollte das Leben der Familie Trotzki schlagartig ändern. Als „Russen, waren sie plötzlich „Feinde“. Die Anzeichen häuften sich, daß nur eine sofortige Ausreise Schutz vor Verhaftung bieten würde. Die Kriegseuphorie heizte sich immer mehr auf. Selbst Kinder zogen durch die Straßen und skandierten antiserbische Sprüche. Trotzkis jüngster Sohn Serjosha, „wie immer vom Geiste des Widerstandes erfüllt, proklamierte auf der Sieveringer Wiese: ‘Hoch Serbien!, Er kehrte heim mit blauen Flecken und einer Lehre in internationaler Politik., Vor Trotzkis Haus kam es sogar zu einer antirussischen Zusammenrottung des patriotischen Mobs.
Wie schon in der Vergangenheit leistete die österreichische Partei den russischen Emigranten nun reichlich Hilfe. Am 3. August 1914 brach Trotzki samt seiner Familie Kopf über Hals nach Zürich auf. Victor Adler höchstpersönlich half ihm dabei. Adler ging mit ihm zum damaligen Polizeipräsidenten Schober, dem späteren Bundeskanzler. In der Polizeidirektion erhielt er auf Intervention Adlers ein Schreiben, das seine Ausreise ermöglichen sollte. Adler verfaßte zusätzlich noch einen Brief an die Genossen in Feldkirch, die Trotzki bei etwaigen Problemen helfen sollte, was letztlich aber nicht notwendig war.
Trotzki konnte seine ganzen Bücher (10 bis 12 Kisten, die im Eisenbahnerheim gelagert wurden), Archive usw. nicht mehr mitnehmen. Seine Bibliothek erhielt er – wiederum auf Initiative Victor Adlers – erst bei den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk im Jahre 1918 als Chefverhandler der Sowjetregierung. Da er nicht mehr die Zeit hatte, seinen Mietvertrag zu kündigen, verkaufte der Hausherr einfach seine Möbel, um das Geld für die letzte Miete zu erhalten. Einer weiteren Anekdote zufolge soll Trotzki auch anderenorts Schulden gehabt haben. So erzählt der Brantweiner Frankel, bei dem die Frau Trotzkis immer Likör eingekauft hatte, daß er in russischer Kriegsgefangenschaft Trotzki gesehen habe. Dieser war als Volkskommissar gerade auf Besuch in einem Gefangenenlager. Als Trotzki durch das Lager schritt, soll er „Herr Bronstein, geschrien haben. Da kaum jemand den Volkskommissar unter seinem eigentlichen Namen kannte, wollte Trotzki natürlich wissen, wer ihn da rufe. Frankl wies Trotzki dann daraufhin, daß er ihm noch eine Flasche Likör schuldig sei, worauf dieser die frühzeitige Entlassung seines alten Brantweiners veranlaßte. Und wenn“s nicht stimmt, ist es gut erfunden…
Trotzki findet trotz der überhasteten Abreise noch Zeit, um einige Eindrücke zu sammeln, die er später in seiner Autobiographie „Mein Leben, verarbeitete: „Besonders unerwartet kam die patriotische Erhebung der Massen in Österreich-Ungarn. Was trieb den Wiener Schuhmachergesellen, den Halbdeutschen-Halbtschechen Pospischil, oder unsere Grünkramhändlerin Frau Maresch oder den Droschkenkutscher Frankl auf den Platz vor dem Kriegsministerium? Der nationale Gedanke? Welcher? Österreich-Ungarn war die Verneinung der nationalen Idee. Nein, die bewegende Kraft war eine andere.
Solche Menschen, deren ganzes Leben, tagaus, tagein, in monotoner Hoffnungslosigkeit verläuft, gibt es viele auf der Welt. Auf ihnen beruht die heutige Gesellschaft. Die Alarmglocke der Mobilisierung dringt in ihr Leben ein wie eine Verheißung. Alles Gewohnte, das man tausendmal zum Teufel gewünscht hat, wird umgeworfen, es tritt etwas Neues, Ungewöhnliches auf. Und in der Ferne müssen noch unübersehbarere Veränderungen geschehen. Zum Besseren? Oder zum Schlimmeren? Selbstverständlich zum Besseren: Kann es den Pospischil schlimmer ergehen als zu ‘normalen, Zeiten?
Ich wanderte durch die Hauptstraßen des mir so gut bekannten Wien und beobachtete die für den prunkvollen Ring so ungewöhnliche Menschenmenge, in der Hoffnungen lebendig wurden. Und hatte sich ein Teilchen dieser Hoffnungen nicht schon heute verwirklicht? Hätten sich zu einer anderen Zeit die Gepäckträger, Waschfrauen, Schuhmacher, Gehilfen und die Halbwüchsigen der Vorstadt auf der Ringstraße als Herren der Lage fühlen können? Der Krieg erfaßte alle, und folglich fühlen sich die Unterdrückten, vom Leben Betrogenen mit den Reichen und Mächtigen auf gleichem Fuße. Das soll nicht paradox genommen sein, daß sich in der Stimmung der Wiener Menschenmenge, die zum Ruhme der habsburgerischen Waffen demonstrierte, jene Merkmale wiederfand, die ich von den Petersburger Oktobertagen 1905 her kannte. Ist doch der Krieg in der Geschichte der Vater der Revolution gewesen., ( S. 211 f.)
Ein Bild, das einen guten Einblick in die Kräfte gibt, die mit Beginn der nationalen Mobilisierung frei wurden. Aus jenen schicksalhaften Tagen rühren einige gerade für die österreichische Arbeiterbewegung sehr interessante politische Aussagen von Trotzki, die zeigen wie unfähig die Sozialdemokratie zu einer antimilitaristischen Reaktion war. In „Mein Leben, schreibt er: „Welche Stellung zum Krieg fand ich bei den leitenden Kreisen der österreichischen Sozialdemokratie? Die einen frohlockten offen, besudelten die Serben und Russen, ohne viel Unterschied zwischen Regierung und Volk zu machen … Ich erinnere mich, wie Hans [richtig: Julius] Deutsch, später so etwas wie ein Kriegsminister, offenherzig von der Unvermeidlichkeit dieses Krieges sprach, der Österreich endlich vom serbischen ‘Alpdruck, befreien würde. Die anderen – an deren Spitze Victor Adler stand – verhielten sich zum Kriege wie zu einer Naturkatastrophe, die man überstehen müsse. Diese abwartende Passivität diente dem aktiv nationalistischen Flügel als Deckung., Julius Deutsch bestätigte dieses Treffen, das am 27. Juli 1914 im Cafe Rüdigerhof in der Nähe des Vorwärts-Hauses, der alten Parteizentrale der SDAP, stattgefunden hatte. Deutsch erinnerte sich, daß ihn nach der Sitzung des Parteivorstandes Trotzki stürmisch fragte, ob die Partei den Generalstreik beschlossen habe, er jedoch auf die gegebenen Machtverhältnisse hinwies, die eine Anwendung dieses Mittels nicht erlaubt hätten.
Die nationale Frage
Während seiner weiteren Stationen im Exil steht von nun an natürlich der Kampf gegen den imperialistischen Krieg im Mittelpunkt seiner politischen Arbeit. Dabei kommt er natürlich nicht umhin, auch die Situation in Österreich zu verfolgen. In seiner zentralen Schrift „Der Krieg und die Internationale, aus dem Jahre 1914 gibt er eine interessante Einschätzung der Habsburgermonarchie, die er im Vergleich zum russischen Zarismus als „gebrechlicheren, durch Altersschwäche gemilderten Absolutismus, bezeichnet. Während aus seiner Sicht Rußland mit der Vernichtung des Zarismus nicht vor der Auflösung steht, steht und fällt Österreich-Ungarn mit der Existenz der Monarchie. Österreich-Ungarn ist für ihn ein „dynastisch erzwungenes Konglomerat zentrifugaler Nationensplitter, und „das reaktionärste Gebilde im Zentrum Europas“. In der Zertrümmerung der Monarchie sieht Trotzki den einzigen Ausweg für die Völker am Balkan. Würden die Habsburger auch nach dem Krieg weiter regieren, wäre Österreich-Ungarn nichts anderes als eine Hilfstruppe des deutschen Militarismus und somit ein zusätzliches Element für die Instabilität in Europa, die früher oder später wieder zu einem Weltkrieg führen würde. Er verstand diese Aussage als Abwandlung des berühmten Sagers „Sozialismus oder Barbarei“, der sich in der Zwischenkriegszeit mit dem Aufstieg des Faschismus tragisch bewahrheiten sollte.
Darauf aufbauend übt Trotzki abermals heftige Kritik an der österreichischen Sozialdemokratie, vor allem an ihr Herangehen an die nationale Frage. Die Arbeiter-Zeitung sieht er als publizistisches Feigenblatt der Monarchie in ihrer „Verteidigung der deutschen Kultur“, deren Positionen unvereinbar mit dem Standpunkt des internationalen Sozialismus sind. Trotzki bemerkt aber, daß diese Ansichten keine neue Erscheinung waren, die etwa nur unter dem Eindruck der unwiderstehlichen Mobilisierung für den Krieg entstanden wäre. Dies erklärt auch, warum sich die österreichische Sozialdemokratie schon Jahre vorher in die verschiedensten nationalen Gruppen aufgesplittert hatte. In der „Zersetzung der österreichischen Sozialdemokratie in sich bekämpfende nationale Teile, sieht er „eine der Äußerungen der objektiven Unzulänglichkeiten Österreichs als staatliche Organisation., Vor dieser Unzulänglichkeit hat sie ideell kapituliert: „Als sie sich ohnmächtig erwies, das vielstämmige Proletariat Österreichs durch die Prinzipien des Internationalismus zu verbinden und endgültig dieser Aufgabe entsagte, da hat die deutsch-österreichische Sozialdemokratie nicht jene ‘Idee, liquidiert, welche Renner, der sozialistische Advokat der Donaumonarchie, als die unerschütterliche Idee Österreich-Ungarn hinzustellen versuchte, sondern dieses Österreich-Ungarn und damit auch seine eigene Politik der ‘Idee, des preußisch-junkerlichen Nationalismus untergeordnet. Dieses völlige prinzipielle Versagen spricht zu uns in unerhörter Sprache aus den Seiten der Wiener Arbeiter-Zeitung. Wenn man aber der Musik dieses hysterischen Nationalismus aufmerksamer lauscht, so kann man die ernstere Stimme nicht überhören, die Stimme der Geschichte, welche uns sagt, daß der Weg zum politischen Fortschritt für Mittel- und Südosteuropa über den Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie geht!, (S. 20)
In seiner Polemik gegen die „k.u.k. Sozialdemokratie, geht er sogar so weit, daß die Wiener Arbeiter-Zeitung bei Kriegsausbruch und dem darauf folgenden Auseinanderbrechen der Zweiten Internationale „ihrer Vergangenheit am treuesten geblieben ist“, weil „die Verteidigung des österreichisch-deutschen Imperialismus nicht nur gegen seine äußeren, sondern auch gegen seine inneren Gegner, blieb immer eine der hervorstechendsten Richtlinien dieses Blattes“. Vergeblich hätten die russischen und serbischen Sozialisten in den Artikeln der Arbeiter-Zeitung Zitate gesucht, „die sie den serbischen und russischen Arbeitern übermitteln könnten, ohne sich der Internationale zu schämen“. (S. 50)
In seiner „Geschichte der Russischen Revolution, stellt Trotzki die bolschewistische und die austromarxistische Methode in der nationalen Frage gegenüber und zeigt dabei sehr gut die theoretischen Defizite der österreichischen Sozialdemokratie auf: „Während der Bolschewismus sich jahrzehntelang auf den Ausbruch nationaler Revolutionen einstellte und die fortgeschrittenen Arbeiter im Geiste dieser Perspektive erzog, paßte sich die österreichische Sozialdemokratie gehorsam der Politik der herrschenden Klassen an, betätigte sich als Anwalt des zwangsweisen Zusammenlebens von zehn Nationen innerhalb der österreichisch-ungarischen Monarchie; aber gleichzeitig absolut unfähig, die revolutionäre Einheit der Arbeiter der verschiedenen Nationalitäten herzustellen, trennte sie diese durch vertikale Scheidewände in Parteien und Gewerkschaften. Karl Renner, aufgeklärter Habsburger Bürokrat, suchte unermüdlich im Tintenfaß des Austromarxismus nach Verjüngungsmitteln für den Habsburger Staat – bis zu der Stunde, wo er sich als verwitweten Theoretikerder österreichisch-ungarischen Monarchie erblickte. Als die Zentralmächte zerschlagen wurden, versuchte die Habsburger Dynastie noch immer, unter ihrem Zepter das Banner der Föderation autonomer Nationen zu erheben: das offizielle Programm der österreichischen Sozialdemokratie, auf eine friedliche Entwicklung im Rahmen der Monarchie berechnet, ward für einen Augenblick Programm der von Blut und Schmutz der vier Kriegsjahre besudelten Monarchie.
Der verrostete Reifen, der zehn Nationen zusammengehalten hatte, zerbarst in Stücke. Österreich-Ungarn zerfiel kraft seiner inneren zentrifugalen Tendenzen, verstärkt durch die Versailler Chirurgie. Neue Staaten wurden gebildet, die alten umgebaut. Die österreichischen Deutschen blieben über einem Abgrund hängen. Für sie ging nun die Frage nicht um die Erhaltung der Herrschaft über andere Nationen, sondern um die Gefahr, selbst unter Fremdherrschaft zu geraten. Otto Bauer, Vertreter des ‘linken, Flügels der österreichischen Sozialdemokratie, hielt den Augenblick für geeignet, die Formel der nationalen Selbstbestimmung aufzunehmen. Das Programm, das während der vergangenen Jahrzehnte den Kampf des Proletariats gegen die Habsburger und die herrschende Bourgeoisie hätte beseelen sollen, wurde in ein Werkzeug zur Selbsterhaltung der gestern herrschenden Nation verwandelt, der heute Gefahr drohte seitens der frei gewordenen slawischen Völker. Wie das reformistische Programm der österreichischen Sozialdemokratie für einen Augenblick jener Strohhalm wurde, an den sich die ertrinkende Monarchie zu klammern versuchte, so mußte die kastrierte austromarxistische Formel des Selbstbestimmungsrechts Rettungsanker der deutschen Bourgeoisie werden.
Am 3. Oktober 1918, als die Frage nicht mehr im geringsten von ihm abhing, ‘anerkannten, die sozialdemokratischen Abgeordneten des Reichsrates großmütig das Recht der Völker des ehemaligen Kaiserreiches auf Selbstbestimmung. Am 4. Oktober nahmen auch die bürgerlichen Parteien das Programm der Selbstbestimmung an. Den deutsch-österreichischen Imperialisten somit um einen ganzen Tag voraus, verhielt sich die Sozialdemokratie noch immer abwartend: man kann ja nicht wissen, welche Wendung die Dinge nehmen werden und was Wilson sagen wird. Erst am 13. Oktober, als durch den endgültigen Zusammenbruch der Armee und der Monarchie eine ‘revolutionäre Situation eintrat, für die“, nach Bauers Worten, ‘unser nationales Programm gedacht war“, stellten die Austromarxisten praktisch die Frage der Selbstbestimmung: wahrlich, sie hatten nichts mehr zu verlieren. ‘Mit dem Zusammenbruch seiner Herrschaft über die anderen Nationen“, erklärt Otto Bauer ganz offenherzig, ‘sah das deutschnationale Bürgertum seine geschichtliche Mission beendet, um deretwillen es bisher die Trennung vom deutschen Mutterlande willig ertragen hatte., Das neue Programm wurde in Umlauf gebracht, nicht weil es die Unterdrückten notwendig hatten, sondern weil es aufgehört hatte, eine Gefahr für die Unterdrücker zu sein. Die besitzenden Klassen, hineingetrieben in eine historische Klemme, waren gezwungen, die nationale Revolution anzuerkennen; der Austromarxismus hielt es nun an der Zeit, sie theoretisch zu legalisieren. Dies ist eine reife Revolution, eine rechtzeitige, historisch vorbereitete: sie hat sich ja doch schon vollzogen. Die Seele der Sozialdemokratie liegt vor uns, wie auf der flachen Hand!
Ganz anders verhielt es sich mit der sozialen Revolution, die keinesfalls auf Anerkennung der besitzenden Klassen hoffen konnte. Sie hieß es zu verschieben, zu entthronen, zu kompromittieren. Da das Kaiserreich naturgemäß nach den schwächsten, das heißt nach den nationalen Fragen auseinanderfiel, zieht Otto Bauer daraus die Schlußfolgerung über den Charakter der Revolution: ‘Noch war sie durchaus nicht soziale, sondern nationale Revolution., In Wirklichkeit hatte die Bewegung von Anfang an tiefen, sozialrevolutionären Inhalt. Der ‘nur, nationale Charakter der Revolution wird nicht schlecht dadurch illustriert, daß die besitzenden Klassen Österreichs die Entente offen aufforderten, die gesamte Armee gefangenzunehmen. Die deutsche Bourgeoisie flehte den italienischen General an, Wien mit italienischen Truppen zu besetzen.
Die pedantisch vulgäre Trennung zwischen nationaler Form und sozialem Inhalt eines revolutionären Prozesses, angeblich als zwei selbständigen historischen Stadien – wir sehen, wie sehr sich Otto Bauer hier Stalin nähert! -, war von höchsten utilitaristischer Bedeutung: sie sollte die Zusammenarbeit der Sozialdemokratie mit der Bourgeoisie im Kampfe gegen die Gefahren der sozialen Revolution rechtfertigen.
Nimmt man nach Marx an, die Revolution sei Lokomotive der Geschichte, dann muß man den Austromarxismus dabei die Rolle der Bremse zuweisen. Bereits nach dem faktischen Zusammenbruch der Monarchie konnte sich die Sozialdemokratie, zur Teilnahme an der Macht berufen, noch immer nicht entschließen, von den alten Habsburgischen Ministern Abschied zu nehmen: die ‘nationale, Revolution beschränkte sich darauf, sie durch Staatssekretäre zu unterstützen. Erst nach dem 9 November, als die deutsche Revolution die Hohenzollern gestürzt hatte, schlug die österreichische Sozialdemokratie dem Staatsrat vor, die Republik auszurufen, die bürgerlichen Partner mit der Bewegung der Massen schreckend, durch die sie selbst bis auf Mark und Bein eingeschüchtert war. ‘Die Christlichsozialen“, ironisiert unvorsichtigerweise Otto Bauer, ‘die noch am 9. und 10. November zur Monarchie standen, entschlossen sich am 11. November, ihren Widerstand aufzugeben…, Um ganze zwei Tage hatte die Sozialdemokratie die Partei der Schwarzhundert-Monarchisten überholt! Alle heroischen Legenden der Menschheit verblassen vor diesem revolutionären Schwung.
Gegen ihren Willen gelangte die Sozialdemokratie zu Beginn der Revolution automatisch an die Spitze der Nation, wie die russischen Menschewiki und Sozialrevolutionäre. Gleich diesen hatte auch sie die größte Angst vor der eigenen Kraft. In der Koalitionsregierung war sie bestrebt, das kleinste Eckchen einzunehmen. Otto Bauer erläutert: ‘Aber es entsprach dem vorerst noch nur nationalen Charakter der Revolution, daß die Sozialdemokraten zunächst nur einen bescheidenen Anteil an der Regierung beanspruchten., Die Frage der Macht entscheidet für diese Menschen nicht das reale Kräfteverhältnis, nicht die Gewalt der revolutionären Bewegung, nicht der Bankrott der herrschenden Klassen, nicht der politische Einfluß der Partei, sondern das pedantische Schildchen ‘nur nationale Revolution“, das die weisen Klassifikatoren den Ereignissen angeklebt hatten.
Karl Renner wartete das Gewitter als Kanzleichef des Staatsrates ab. Die übrigen sozialdemokratischen Führer verwandelten sich in Gehilfen der bürgerlichen Minister. Mit anderen Worten: die Sozialdemokraten versteckten sich unter den Kanzleitischen. Die Massen jedoch waren nicht gewillt, sich mit der nationalen Schale der Nuß abspeisen zu lassen, deren sozialen Kern die Austromarxisten für die Bourgeoisie aufbewahrten. Die Arbeiter und Soldaten schoben die bürgerlichen Minister beiseite und zwangen die Sozialdemokraten, ihren Unterschlupf zu verlassen. Der unersetzliche Theoretiker Otto Bauer erläuterte: ‘Erst die Ereignisse der folgenden Tage, die die nationale Revolution zur sozialen vorwärtstrieben, verstärkten unser Gewicht in der Regierung., In eine allgemeinverständliche Sprache übersetzt: durch den Druck der Massen wurden die Sozialdemokraten gezwungen, unter dem Tisch hervorzukriechen.
Aber ohne auch nur für eine Minute ihrer Bestimmung untreu zu werden, nahmen sie die Macht allein zu dem Behufe, einen Krieg gegen Romantik und Abenteurertum zu beginnen: unter diesem Namen figuriert bei den Sykophanten jene soziale Revolution, die ihr ‘Gewicht in der Regierung, verstärkt hatte. Wenn die Austromarxisten nicht ohne Erfolg im Jahre 1918 ihre historische Mission als Schutzengel der Wiener Kreditanstalt vor der revolutionären Romantik des Proletariats erfüllen konnten, so nur darum, weil sie nicht durch eine wirklich revolutionäre Partei behindert wurden.
Zwei Nationalitätenstaaten, Rußland und Österreich-Ungarn, haben durch ihr jüngstes Schicksal den Gegensatz zwischen Bolschewismus und Austromarxismus besiegelt.“
Krise, Sozialdemokratie und Faschismus
Ende der 20er Jahre rückt Österreich angesichts der faschistischen Gefahr wieder in das Zentrum des Interesses. Wieder sieht sich Trotzki zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den Positionen des Austromarxismus gezwungen. In der fernen Türkei verfolgt Trotzki zwischen 1929 und 1933 intensiv die politische Lage in Österreich und liefert vor allem in seiner Schrift „Die österreichische Krise, die Sozialdemokratie und der Kommunismus, eine einzigartige Charakterisierung der österreichischen Arbeiterbewegung. Die relative Kraft der österreichischen Sozialdemokratie resultierte, so Trotzki, vor allem aus der außerordentlich schwachen Position der österreichischen Bourgeoisie nach dem Ersten Weltkrieg und der Revolution von 1918 und der damit verknüpften wirtschaftlichen und politischen Unselbständigkeit des Landes. Die SDAP war aus seiner Sicht „Retter und Stabilisator des bürgerlichen Regimes“. Aus dieser Position der Stärke heraus konnte sie auch immer wieder gegen die Bourgeoisie auf Distanz gehen, wodurch sie für große Teile der Arbeiterklasse als echte politische Alternative erschien. Erst durch diese soziale Massenbasis hat sie aber wiederum die Möglichkeit, der Bourgeoisie den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. In der ersten Phase der Stabilisierung der bürgerlichen Herrschaft nach der Revolution fungierte die Sozialdemokratie eindeutig als „direkte Agentur des ausländischen Kapitals“. Die Unverletzlichkeit des Privateigentums rechtfertigte man dann auch immer mit dem Argument, man könne zwar mit der eigenen Bourgeoisie fertig werden, gegen die Übermacht der imperialistischen Mächte hätte man aber keine Chance. Deshalb müsse man vor „revolutionären Abenteuern, absehen.
Eine weitere Kraftquelle zog die Sozialdemokratie in der Ersten Republik aus ihrer politischen Vormachtstellung in Wien. „Was er (der Austromarxismus, Anm.) im Wiener Gemeinderat leistet, reicht hin, um ihn in den Augen der Arbeiter von den bürgerlichen Parteien zu unterscheiden, und für das, was er nicht zustande bringt – nämlich das Wichtigste -, kann er stets die bürgerlichen Parteien verantwortlich machen., Die Stärke in Wien wird konterkarriert durch die eigene Schwäche in den Landgebieten Österreichs. Angesichts des bestehenden Kräfteverhältnisses argumentierten die Spitzen der SDAP für eine Politik des Abwartens und der Passivität.
Trotzki weist aber auch darauf hin, daß man sich nicht darauf beschränken kann, die Sozialdemokratie als Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie zu bezeichnen. Sie ist zugleich eine Organisation „mit einer großen Bürokratie und einer verselbständigten Arbeiteraristokratie, die spezifische Interessen und Ansprüche haben“. An dieser Stelle arbeitet Trotzki recht schön den widersprüchlichen Charakter der Sozialdemokratie heraus. An ihrer Spitze eine Bürokratie mit ihren eigenen kleinbürgerlichen Lebensweisen, Sitten und Ideen, die sich aber wiederum auf die Arbeiterklasse stützt und ständig deren Unzufriedenheit fürchten muß. Aus diesem Grund kommt es fast zwangsläufig zu Konflikten zwischen der Bourgeoisie und der Sozialdemokratie, die durch ein Verhältnis miteinander verbunden sind, das dem zwischen Herr und Knecht gleicht.
Die Aufgabe der Sozialdemokratie ist aus der Sicht der Bourgeoisie klar definiert: Sie soll die Arbeiterklasse durch ihr Netz von politischen, gewerkschaftlichen, städtischen, Kultur- und Sportorganisationen ruhig halten. Wie jedoch die Ereignisse im Juli 1927 vor dem Justizpalast gezeigt haben, sind diese reformistischen Methoden keine hundertprozentige Sicherheit für die Bürgerlichen.
Hier kommt Trotzki nun zu seiner Analyse des Faschismus, des zweiten Knechts der österreichischen Bourgeoisie. Dessen soziale Basis ortet er im Kleinbürgertum und allen nur denkbaren deklassierten Elementen, „an denen Österreich so reich ist“. Diesen verzweifelten, heruntergekommenen Kleinbürgern bietet der Faschismus eine politische Perspektive – „einen rettenden Umsturz, der ‘die Marxisten, hindern soll, fortan die Prosperität von Landwirtschaft, Handel und Gewerbe zu blockieren.“
Österreich wird so zum besten Beweis dafür, daß der Faschismus nicht eine logische Folge auf den revolutionären Bolschewismus ist, denn der ist in Österreich nur eine marginale Kraft, sondern vielmehr eine Antwort auf die reformistischen Organisationen der Arbeiterbewegung darstellt. „Je klarer, schreiender und unerträglicher der Widerspruch zwischen den Erfordernissen der historischen Situation und der praktischen Politik der sozialdemokratischen Massenpartei wird, desto bedeutender ist die Rolle, die der Faschismus im Land spielen kann. In Österreich wie in allen Ländern tritt der Faschismus als notwendige Ergänzung der Sozialdemokratie auf, lebt von ihr und kommt mit ihrer Hilfe zur Macht.“
Trotzki zeigt in der Folge, daß es Ende der 20er Jahre in Österreich angesichts des ökonomischen Niedergangs keine demokratische Entwicklung geben konnte. Völlig illusionär also die austromarxistische Idee, man müsse nur die absolute Mehrheit im Parlament erlangen, sozialistische Inseln wie das Rote Wien aufbauen, um dann Schritt für Schritt den Übergang zum Sozialismus zu bewerkstelligen. Wie im Linzer Parteiprogramm von 1926 dargelegt, wäre es zwar legitim Gewalt einzusetzen, um die Republik, die bestehende bürgerliche Demokratie, also „die Interessen der staatlich organisierten Bourgeoisie, zu verteidigen, nicht aber zur Errichtung eines Arbeiterstaates. Gewalt sei also nur als Antwort auf einen vollzogenen Staatsstreich legitim, aber nicht 24 Stunden vorher, wenn es noch möglich wäre, einen solchen zu verhindern. Hier prognostiziert Trotzki auch schon die Reaktion von Otto Bauer & Co. während des Februar 1934: „Wir haben die Arbeiter nicht gegen die Faschisten in Bewegung gebracht, als sie verfassungsfeindliche Banden organisierten und die gesetzliche Ordnung bedrohten, und wir noch über mächtige Organisationen, eine legale Presse, 43 Prozent der Abgeordneten und den Wiener Gemeinderat verfügten; jetzt haben die Faschisten den Staatsapparat in Händen und stützen sich auf ihr selbstgeschaffenes Recht, wir aber haben weder Feuer noch Wasser, stehen außerhalb der Gesetze, haben keine legalen Beziehungen zu den Massen, die zudem enttäuscht und unterdrückt sind und in großer Zahl zu den Faschisten überlaufen; unter diesen Umständen zum Aufstand rufen – das können nur verbrecherische Abenteurer oder Bolschewisten.“
Besser konnte man die von Passivität geprägte Psychologie der Austromarxisten nicht in eine Prognose gießen! Trotzki zeigt dem österreichischen Proletariat also schon 1929 Schritt für Schritt den Weg, den es unter der Führung der Sozialdemokratie gehen wird müssen. Die Bourgeoisie braucht demzufolge keine Angst vor einer Machtübernahme durch die Sozialdemokratie haben, gleichzeitig wird aber die Disziplinierung der Arbeiter durch die Sozialdemokratie für sie zu kostspielig, deshalb braucht sie den Faschismus, um die Sozialdemokratie in Zaum zu halten und sie bei günstiger Gelegenheit zu zerschlagen. Unter den Bedingungen einer Wirtschaftskrise könne die Bourgeoisie keine Kompromisse mit den Reformisten eingehen.
Bis es dazu kommen würde, bevorzugt sie aber eine Zwischenstufe. Noch zögert sie nämlich noch davor, den Faschisten die Macht vollständig auszuhändigen, weil ihr diese vom Kleinbürgertum getragene Massenbewegung zu unsicher erscheint. Diese Zwischenstufe wäre eine autoritäre Verfassungsreform unter Mithilfe der Sozialdemokratie. Trotzki macht aber auch klar, daß früher oder später die in der österreichischen Gesellschaft der Zwischenkriegszeit vorhandenen Widersprüche gewaltsam gelöst werden müssen.
Der Artikel endet mit einer harschen Kritik an der damaligen Politik der KPÖ und der von ihr verfochtenen Sozialfaschismustheorie, wonach Sozialdemokratie und Faschismus ein und dasselbe wären. „Aber Sozialdemokratie und Faschismus in einem Augenblick, wo die sozialdemokratischen Arbeiter tödlichen Haß und ihre Führer tödliche Furcht gegenüber dem Faschismus empfinden, miteinander zu identifizieren, heißt, sich in Widerspruch zur realen politischen Konstellation bringen, die Massen mißtrauisch gegen den Kommunismus machen und die Bindung an ihre Führer festigen“.
Ähnlich wie heute zeichnete sich die KPÖ durch ein völliges Unverständnis aus, wie man mit einer Sozialdemokratie umzugehen hat, die mehr als jede andere Partei der internationalen Sozialdemokratie mit der gesamten Arbeiterklasse mehr oder weniger identisch ist. Trotzki sieht nur einen Ausweg: Nicht das mechanische Wiederholen von Parolen à la „Bildet Arbeiterräte!, oder „Diktatur des Proletariats, sondern durch geduldiges Erklären auf der Grundlage korrekter politischer Perspektiven können MarxistInnen den Einfluß des Reformismus in der Arbeiterbewegung brechen. Und das obwohl Trotzki die Lage in Österreich als revolutionär einstuft.
Kurz nach der Ausschaltung des Parlaments durch das Dollfuß-Regime im März 1933 befaßt sich Trotzki abermals mit der Situation in Österreich. Zuerst in Form eines „Briefes an einen österreichischen Genossen“. Darin schreibt er: „Die passiv-drohende, abwartend sich sträubende Politik der österreichischen Sozialdemokratie ist nichts anderes als die Vorbereitung der faschistischen Herrschaft. Darin besteht ja vom kapitalistischen Standpunkt aus die Existenzberechtigung der faschistischen Diktatur, daß die Arbeiterklasse den in die geschichtliche Sackgasse geratenen Kapitalismus durch ihre Opposition noch mehr schwächt, zermürbt, paralysiert, aber sich selber als unfähig erweist, sich der Gewalt zu bemächtigen und dem Volke aus Chaos und Fäulnis einen Ausweg zu eröffnen. Durch ewige Opposition, die unter den jetzigen Verhältnissen wie Sabotage aussieht, provoziert man den Klassenfeind und treibt ihm immer neue Schichten und Gruppen zu. Durch revolutionäre Abstinenz verleiht man ihm Mut zum endgültigen Entschluß: Biegen oder brechen. Das ist die heutige Lage in Österreich. Sie kann höchstens Monate dauern. Dann wird die Herrlichkeit herausgefegt und Otto Bauer wird irgendwo in Paris oder in London in Zeitungsartikeln beweisen, daß Österreich unter dem Kanzler Renner doch besser war als Österreich unter den Faschisten. Und das alles wird als Verteidigung der Demokratie ausgegeben!“
Wenige Tage später vertieft er mit seinem Artikel „An der Reihe ist Österreich, seine Analyse. In Deutschland hatten mittlerweile die Nazis bereits die Macht übernommen. In Österreich unterschied sich Lage, so Trotzki, qualitativ nicht von der Deutschlands. Die Entwicklungen im benachbarten Ausland sollten aber auch in Österreich die Stunde der Entscheidung mit Riesenschritten näherbringen.
Das Dollfuß-Regime definierte Trotzki ähnlich den Regierungen Brüning, Papen, Schleicher vor 1933 in Deutschland als Bonapartismus, also einer Regierung, „die zwischen zwei unversöhnlichen Lagern laviert und in immer größerem Ausmaße gezwungen ist, die unter den Füßen schwindenden sozialen Stützpunkte durch den militärisch-polizeilichen Apparat zu ersetzen.“
Für Trotzki war aber klar, daß selbst dieses Regime des offenen Verfassungsbruchs nur eine kurze Episode auf dem Weg zum Faschismus sein könne. Die von der Sozialdemokratie gehegten Hoffnungen auf die anderen europäischen Mächte als Schutz vor einer faschistischen Machtübernahme stellt er als reine Utopie dar. „Je mehr die österreichische Sozialdemokratie sich mit der Politik Frankreichs und der Kleinen Entente verbinden wird, deren Aufgabe darin besteht, Österreich im Zustand der ‘Unabhängigkeit, zu erhalten, das heißt der Isolierung und Machtlosigkeit, umso mehr wird der Faschismus in den Augen der kleinbürgerlichen Massen als die Partei der nationalen Befreiung erscheinen., Genau das sollte dann im März 1938 Wirklichkeit werden…
Trotzki geht in all seinen Schriften zur Lage in Österreich von dem Verständnis aus, daß ein Ausweg nur über das Zurückdrängen des Einflusses der Sozialdemokratie geht. Dabei kritisiert er nicht die Austromarxisten deshalb, weil „sie für die Demokratie kämpfen, sondern darum, weil sie für sie nicht kämpfen., Der Sozialdemokratie wirft er vor, daß sie das Phänomen Faschismus und seine Wurzeln, die er in der Krise des Kapitalismus sieht, nicht versteht und daß sie aufbauend auf diesen theoretischen Fehlern eine Politik betreibt, die sie selbst zu einem Teil des Problems macht. „Wenn die Sozialdemokratie nur fähig ist, zu kritisieren, zu murren, zu bremsen, zu drohen und abzuwarten, aber nicht fähig, die Geschichte der Gesellschaft in ihre eigenen Hände zu nehmen, wenn es um Leben und Tod der Nation und ihrer Kultur geht, so wird diese Partei, welche die Hälfte der Nation vertritt, selbst zu einem Werkzeug des sozialen Zerfalls und zwingt die Ausbeuterklassen, die Rettung im Faschismus zu suchen., Für ihn ist klar, daß die Austromarxisten mit ihrer reformistischen Strategie nicht den Klassenfeind sondern die Arbeiterklasse ermatten und so die Voraussetzungen für den Sieg des Faschismus legen. Trotzki weist daraufhin, daß hinter der austromarxistischen Losung „Wenn man uns angreift, dann werden wir mit allen Mitteln kämpfen!, nicht mehr als die Hoffnung steckt, daß es schlußendlich doch möglich sein wird, einen Kompromiß mit der Bourgeoisie zu finden, daß man sie doch in Ruhe lassen wird. „Das eben bedeutet, das Proletariat zur Erleichterung der faschistischen Chirurgie zu narkotisieren., Unter dieser Narkose sollte es dann im Ernstfall auch unmöglich sein, die Arbeiter zum Generalstreik zu mobilisieren. Wiederum sollte die reale Entwicklung, diesmal im Februar 1934, Trotzki recht geben.
In der Frage des Generalstreiks behandelt er dann einen recht interessanten Aspekt. Denn gehen wir von der eher unwahrscheinlichen Perspektive aus, daß die Arbeiterklasse trotzdem dem Ruf der Parteispitze folgen würde, was hieße es dann überhaupt unter den gegebenen Umständen, wo alle Widersprüche die höchste Spannung erreicht hatten und jeder ernste Konflikt das Problem der Macht und die Perspektive des Bürgerkrieges auf die Tagesordnung stellt, zum Generalstreik aufzurufen? Der Generalstreik ist für ihn nur die Mobilisierung der revolutionären Kräfte, aber noch nicht der Krieg. Gelingt es dann nicht den Generalstreik zu einem Kampf um die Macht zu einer Strategie der Revolution weiterzuentwickeln, ist die Niederlage vorprogrammiert.
Trotzki betont in der Folge, daß die Opposition in der Sozialdemokratie nicht den Fehler begehen dürfe, die Stimmung der Massen als unveränderliche Größe zu sehen. „Die sozialdemokratische Opposition kann eine Wendung in der Stimmung der Arbeiter zustandebringen, wenn sie sofort zeigt, daß sie sich nicht auf literarische Kritik zu beschränken gedenkt und sich nicht anschickt, ihrerseits vor der Parteileitung, die vor dem Faschismus kapituliert, zu kapitulieren. Mit anderen Worten muß sie sich losreißen von den Oppositionstraditionen Max Adlers, der mit seiner impotenten ‘linken, Kritik nur Otto Bauer u. Co. unterstützte und stärkte. Notwendig ist eine Opposition, die sich die sofortige Mobilisierung der Massen für den revolutionären Kampf zur Aufgabe stellt und die bei der Durchführung dieser Aufgabe nicht haltmacht bei der Wahrung der Disziplin, des Statuts und der Einheit der Partei.“
Nicht die organisatorische Trennung von der Sozialdemokratie sondern der Kampf gegen die Politik des Austromarxismus in den Reihen der Sozialdemokratie bietet einen Ausweg. Denn: „Heute, wo die Opposition fast noch gar nicht vor die Arbeitermassen hingetreten ist, würde ihr Bruch mit der offiziellen Organisation nur die Aufgabe von Bauer u. Co. erleichtern.“
Frage der Unabhängigkeit Österreichs
1936, als die Gefahr des Anschlusses Österreichs an Nazi-Deutschland bereits zu einer realistischen Option geworden war, veröffentlicht Trotzki in Interviewform einen Text in der deutschsprachigen trotzkistischen Zeitschrift ‘Unser Wort, zur Frage „Sollen die österreichischen Arbeiter die ‘Unabhängigkeit, Österreichs verteidigen?“. Er charakterisiert darin den kommenden Weltkrieg als einen Krieg, dessen zentrales Merkmal die militärische Auseinandersetzung zwischen verschiedenen imperialistischen Mächten ist. Er verwehrt sich weiters gegen die Argumentation, es ginge hier um einen Krieg zwischen „Demokratie, und „Faschismus“, weshalb man die Länder mit einer bürgerlich-demokratischen Staatsform unterstützen müsse.
Auf Österreich gemünzt, konnte das aus seiner Sicht nur bedeuten, daß MarxistInnen die Losung der Verteidigung der Unabhängigkeit Österreichs ablehnen sollten. Seine Alternative lautet: „Wenn es überhaupt einen Weg gibt, sich Hitlers in Österreich zu erwehren, so ist es der, die eigene Bourgeoisie zu schlagen. Die Politik des ‘kleineren Übels, führt nur zum größeren Übel., Die Lösung könne daher nur in einem revolutionären Zweifrontenkrieg, also im Kampf gegen die Austrofaschisten einerseits verknüpft mit dem Kampf gegen die Nazis andererseits liegen. Der KP und den Revolutionären Sozialisten (RS) warf er vor, die Arbeiterklasse weiter zu verwirren, wenn sie den Standpunkt einnehmen, man müsse die österreichische Unabhängigkeit verteidigen, da sich somit auf den gleichen Standpunkt einlassen, den schon das Regime Schuschnigg vertritt.
Trotzki betont dabei, daß die Unabhängigkeit Österreichs ohnedies eine Schimäre ist. In Wahrheit sei Österreich nicht viel mehr als ein Vasall des faschistischen Regimes in Italien. Diese Frage ist untrennbar verbunden mit der damaligen Diskussion über eine brauchbare antifaschistische Strategie. Nach der Niederlage der Arbeiterbewegung in Deutschland und der Machtübernahme Hitlers war die Komintern nach einiger Zeit auf die sogenannte Volksfronttaktik umgesattelt. Verwehrte man sich zuerst noch im Sinne der „Sozialfaschismustheorie, gegen jegliche Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie, strebte man nach 1935 ein Bündnis mit allen „antifaschistischen Kräften, an. Man wollte nun auf einmal ein „fortschrittliches Bürgertum, entdeckt haben, mit dem man Hitler bekämpfen könne. In Österreich war die Umsetzung dieser neuen Theorie aber besonders diffizil, weil der Faschismus ja schon die Macht inne hatte. Deshalb erfand nun Alfred Klahr (KPÖ) die „österreichische Nation, und mit diesem theoretischen Konstrukt hatte man nun auch ein Argument für die Volksfront, mangels einer wirklich demokratischen Bourgeoisie schuf man sich halt eine nationale, eine patriotische. Dieses Bündnis hätte natürlich nur unter „vollkommener Zurückstellung des Klassenkampfes, funktionieren können. Trotzki bemerkt aber, daß gerade eine solche Politik des „sozialen Friedens, den Nazis noch mehr Menschen in die Arme gespielt hätte.
Seine Perspektive ist eine revolutionäre. Er weiß aber, daß die reformistischen Führer der alten Arbeiterorganisationen einer Revolution im Weg stehen: „Auch RS und KP sprechen an Sonn- und Feiertagen von der Revolution. Aber in Wahrheit glauben sie nicht an die Revolution, sonst würden sie nicht die Hoffnungen der von ihnen beeinflußten Massen auf Teile der Bourgeoisie des eigenen Landes und die Bourgeoisie anderer Länder lenken. (…) Das Proletariat kann die stärkste soziale Kraft der modernen Gesellschaft sein. Was die siegreiche Entfaltung dieser Kraft verhindert, sind die im Proletariat heute noch einflußreichen Parteien.“
Trotzkis hat sich hier längst schon der Aufgabe zugewandt, eine neue revolutionäre internationale Partei aufzubauen. Dieser Versuch findet in Österreich jedoch nur ein sehr geringes Echo. Er selbst steht mit mehreren seiner Anhänger in Österreich in schriftlichem Kontakt, was aber nichts daran ändern konnte, daß die „Trotzkisten, hierzulande über das Stadium kleiner, mehr oder weniger isolierter Kleingruppen nicht hinauskamen. Nichtsdestotrotz bleiben seine Analysen gerade zur Situation in Österreich bis zum heutigen Tag ein unerläßliches Instrument zum Verständnis der historischen Entwicklung Österreichs in der Zeit von 1914-38 im allgemeinen und die Rolle der österreichischen Arbeiterbewegung im speziellen. Letzteres ist nicht nur von geschichtswissenschaftlichem Wert und Interesse sondern hilft selbst heute noch bei einer kritischen Auseinandersetzung mit der Arbeiterbewegung zu Beginn des 21. Jahrhunderts.
Verwendete Literatur:
Leo Trotzki, Mein Leben
Leo Trotzki, Der imperialistische Krieg
Leo Trotzki, Schriften über Deutschland
Leo Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution
Leo Trotzki, Literatur und Revolution
Leo Trotzki, Die Kopenhager Rede
Leo Trotzki, Kultur und Sozialismus
Leo Trotzki, Tagebuch im Exil
Isaac Deutscher(Hg.), Denkzettel
Victor Serge, Vie et mort de Trotsky
Helmut Dahmer, Kritik und Pseudonatur
VGA, Dokumentation über Carl Furtmüller
Alfred Mansfeld, in: VGA, Jahrbuch 1992
Karl Fallend, in: VGA, Sacharchiv, Lade 24, Mappe 30
Arbeiter-Zeitung
Der Kampf
Die Zukunft